Diabetes und Adipositas: Abnehmen mit der Spritze | Gesundheit! | BR Fernsehen | Fernsehen | BR.de

2022-12-07 17:32:46 By : Mr. Andy Leon

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Fast zu schön, um wahr zu sein: Abnehmen nicht durch Sport oder Diäten, sondern mit einer wöchentlichen Spritze. Neue Wirkstoffe machen das möglich. Mediziner sehen darin eine große Chance im Kampf gegen Diabetes und Adipositas.

Henning Auer ist Diabetespatient. Für ihn ist heute wahr, wovon andere nur träumen: Abnehmen ganz ohne Diäten oder schweißtreibenden Sport, sondern – mit einem Medikament. Das spritzt er sich einmal wöchentlich ins Bauchfett.

"Das geht ganz einfach. Ich habe angefangen mit 99 Kilo und bin jetzt bei meinem geringsten Gewicht von 82 Kilo."

Der Wirkstoff Semaglutid gehört zu den verhältnismäßig neuen, sogenannten GLP-1 Rezeptoragonisten. Schon seit Mitte der 2000er Jahre sind sie in den USA zugelassen. In Deutschland ist Semaglutid als Diabetesmedikament seit 2018 auf dem Markt. Der Wirkstoff lässt bis zu 16 Prozent des Körpergewichts schmelzen. Sogar noch deutlich mehr, bis zu 25 Prozent, sind möglich beim gerade zugelassenen Wirkstoff Tirzepatid. Für Ärzte wie den Endokrinologen Professor Robert Ritzel ist das ein Meilenstein.

"Man kann wirklich sagen, das ist ein Durchbruch. Denn das Ausmaß der Wirkung haben wir so vorher mit anderen Medikamenten nicht gesehen."

Prof. Dr. med. Robert Ritzel, Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Angiologie, München Klinik Bogenhausen und Schwabing  

Auch Henning Auer machte ständig Diäten und versuchte abzunehmen. Doch der Jo-Jo-Effekt brachte verlorene Pfunde im Nu zurück. Vor zwei Jahren engleisten noch dazu seine Zuckerwerte. Nachdem er Semaglutid verschrieben bekam, normalisierten sie sich in wenigen Monaten wieder.

Für seinen Arzt Prof. Robert Ritzel liegt der Wert der Wirkstoffe nicht in erster Linie im Gewichtseffekt, sondern in der Wirkung der Medikamente insgesamt.    

"Für mich als Arzt ist entscheidend, dass die Medikamente verschiedene Wirkungen vereinen: neben dem Gewichts- auch den Blutzuckereffekt. Und was wir ja erst seit wenigen Jahren wissen und was besonders wichtig ist: auch einen Gefäßschutz. Sie senken das Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall und zum Beispiel auch Durchblutungsstörungen in den Beinen."

Prof. Dr. med. Robert Ritzel, Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Angiologie, München Klinik Bogenhausen und Schwabing   

Diabetespatienten benötigen das Medikament oft auf Dauer. Trotzdem ist Henning Auer froh über sein heutiges Lebensgefühl.

"Eine riesen Lebensqualität habe ich jetzt. Also noch vor wenigen Monaten hätten Sie mich hier im Schweiße meines Angesichts gesehen. Jede Bewegung hat mich fertiggemacht. Das ist alles weg. Ich fühle mich fit, gesund, toll."

Die Medikamente bestehen aus Strukturen, die an die Rezeptoren sogenannter Inkretinhormone im Körper andocken und damit deren Wirkung verstärkt auslösen können. Sie gehen zurück auf Forschungen der letzten Jahrzehnte. Prof. Robert Ritzel war selbst daran beteiligt. Anfang der neunziger Jahre schrieb er seine Doktorarbeit über das Darmhormon GLP-1.

GLP-1 gehört zu den Hormonen, die den Inkretineffekt steuern. Essen wir, nehmen wir Zucker auf. Danach werden Hormone wie GLP-1 und auch das Hormon GIP vor allem vom Dünndarm ausgeschüttet. Sie aktivieren spezielle Rezeptoren der Bauchspeicheldrüse, die dann mehr Insulin erzeugt. Der Blutzuckerspiegel sinkt und stabilisiert sich. Aber auch im Gehirn gibt es Rezeptoren für die Hormone. Damit wird gesteuert, wann wir uns satt fühlen - und so das Körpergewicht insgesamt. Grundsätzlich gilt: Sind wir zu dick, wird Glucose von Zellen schlechter aufgenommen. Nehmen wir ab oder haben normales Gewicht, geht das viel besser.

In den Medikamenten sind die Wirkstoffe rund zehnmal konzentrierter als im Körper. Die häufigste Nebenwirkung ist Übelkeit und im schlimmsten Fall Erbrechen. Beides ist jedoch ungefährlich und oft nur von kurzer Dauer. Um das zu vermeiden, wird die Dosis außerdem nach und nach langsam erhöht. Gefährliche Neben- oder auch Langzeitwirkungen sind bisher nicht bekannt.    

Semaglutid ist inzwischen auch zur Behandlung von Adipositas zugelassen. Die Kassen bezahlen die rund 85 Euro pro Monat allerdings nur bei der Behandlung von Diabetes. Übergewicht gilt bisher als Folge des individuellen Lebensstils und nicht als Krankheit. Trotzdem sieht Diabetologe Robert Ritzel in den neuen Medikamenten eine große Chance für Menschen mit starkem Übergewicht. Denn viele erkranken im Laufe ihres Lebens an Diabetes.

"Circa 80 bis 90 Prozent der Patienten mit Diabetes haben mindestens Übergewicht oder eine Adipositas. Und das ist ja nicht nur ein Problem für den Blutzucker, sondern eben auch für viele andere Organe mit oft fatalen Folgen."

Prof. Dr. med. Robert Ritzel, Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Angiologie, München Klinik Bogenhausen und Schwabing

Christoph Bereuter hat Prädiabetes und starkes Übergewicht. In den letzten Jahren nahm er jedes Jahr rund fünf Kilogramm zu. Daran wollte er dringend etwas ändern. Zuerst dachte er an eine Magenverkleinerung, war aber irritiert über die möglichen Folgen.

"Als ich mich über den Eingriff informiert habe, war einer der markigen Sprüche: 70 Prozent der Leute, die die OP machen, lassen sich anschließend scheiden. 70 Prozent, dachte ich mir, das sind ja unglaublich viel. Das wollte ich auf keinen Fall erleben."

Seine Familie ist ihm wichtig. Deshalb setzt er vorübergehend auf die Spritze zum Abnehmen. Der Effekt: 

"Man hört einfach schneller auf zu essen. Also wenn man von früher gewöhnt ist, große Teller oder Portionen zu essen, dann unterstützt einen das. Du sagst Dir nach der Hälfte des Tellers: Eigentlich langt´s. Und das führt dazu, dass Du nicht weiter isst. Das gilt auch für den Abend: Auf der Couch, vor dem Fernseher hast Du gar keine Lust, Dir etwas zum Naschen oder Knabbern zu holen. Das hilft enorm."

Die Medikamente bekommt er im Rahmen eines einjährigen Adipositas-Kurses in der München Klinik Bogenhausen. Entscheidend dabei ist, den bisherigen Lebensstil grundlegend zu ändern.

"Wichtig ist es, dass die Medikamente mit den Lebensstilmaßnahmen gesunde Ernährung und viel Bewegung ergänzt werden. Dann ist natürlich die Wirksamkeit besser. Und auch kurzfristige Erfolge können bei den Patienten ganz neue Motivationsschübe auslösen. Und das ist der Schlüssel, nach dem wir suchen. Denn dann brauchen wir bei Adipositaspatienten das Medikament nach einiger Zeit vielleicht gar nicht mehr und haben eine Chance, dass sie ein niedrigeres Gewicht halten. Bei Patienten mit Typ 2 Diabetes ergeben sich dann natürlich auch Chancen, weil man bei niedrigerem Gewicht vielleicht auch andere Medikamente einsparen kann."

Prof. Dr. med. Robert Ritzel, Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Angiologie, München Klinik Bogenhausen und Schwabing

Gelingt die Lebensstiländerung, lässt sich Diabetes verhindern, effektiver behandeln, das Körpergewicht senken und vor allem auch langfristig halten. Um das zu erreichen, lernt Christoph Bereuter gemeinsam mit anderen Kursteilnehmern, was eine ausgewogene und gesunde Ernährung ausmacht und wie gut sie schmecken kann, welche psychologischen Faktoren ihn beim Ab- und Zunehmen beeinflussen und - wieder mehr Bewegung in seinen Alltag zu bringen. Inzwischen treibt er regelmäßig Sport. Unterstützt von den Medikamenten ist er heute schon 28 Kilo leichter. Ein vollkommen neues Lebensgefühl:

"Jetzt ist der Bauch einfach viel kleiner, da du tust du dich viel leichter. Du gewinnst mehr Lust darauf, auf dein Fahrrad zu steigen und zu sagen: Wir fahren mit dem Rad! Das ist unglaublich, wenn man wieder in diesen Sportgedanken hineinkommt und da hilft die Spritze massiv."

In wenigen Monaten kommt der neue Wirkstoff Tirzepatid auch bei uns auf den Markt. Er ist eine Weiterentwicklung der bisherigen Stoffe und setzt nicht nur auf GLP1- , sondern zusätzlich auf das GIP-Hormon. Die Kombination wirkt nochmals effektiver gegen Adipositas. In Studien verloren die Teilnehmer bis zu 25 Prozent ihres Körpergewichts. Noch ist nicht klar, was genau diese Wirkung ausmacht. Zugelassen ist er, im Gegensatz zu Semaglutid, bisher in Europa nur zur Diabetes-Behandlung. Aufgrund der weltweit großen Nachfrage kommt es aktuell zu Lieferschwierigkeiten.   

"Im Moment zeichnet sich ab, dass sich diese Substanzklasse der GLP-1 Rezeptoragonisten mittelfristig zu Blockbuster-Medikamenten entwickeln und dann ganz ähnlich eingesetzt werden wie vielleicht ACE-Hemmer bei Bluthochdruck oder Statine bei erhöhten Cholesterinwerten. Damit ist im Moment zu rechnen."

Prof. Dr. med. Robert Ritzel, Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Angiologie, München Klinik Bogenhausen und Schwabing

Christoph Bereuter will die Spritze zum Abnehmen nur vorübergehend nutzen.   

"Unsere Gruppe heißt UHU für unter hundert. Das ist aber tatsächlich ein langfristiges Ziel, dass ich tatsächlich irgendwann unter hundert Kilo lande."

Der Einstieg dazu ist ihm mithilfe der Medikamente gelungen.

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